Berlin polarisiert.
Die Stadt ist einerseits der Puls der modernen Welt. Sie ist bekannt für ihren eigenen Charme, ihre Verrücktheit und Individualität. Sie zieht so auch all die individuellen eigenen Charaktere an. Doch vereint sie genauso den Querschnitt der Gesellschaft – den Urberliner mit seinem charmanten Berlinerisch in jedem seiner Worte, den nach sich selbst suchenden Studenten, den Künstler, der ‚irgendwas mit Medien‘ macht genauso aber auch den Obdachlosen und Heimatlosen. Die Stadt ist riesig, für manche unberechenbar und schäbig, für andere angeblich voller Hipster und immer mit einem Sojakaffee- Latte in der Hand.
Und der Neuberliner? Der sieht manche Einzelheiten noch etwas bewusster und kann in all den Vorurteilen aufräumen. Er kann aber auch noch viel von den Urberlinern und der Stadt selbst lernen.
- Hinweis: U-Bahn-Wettrennen
Zieht man nach Berlin, ist man höchstwahrscheinlich aus seiner Heimatstadt oder vorigem Wohnort Wartezeiten von mindestens 10 Minuten bei der Straßenbahn oder Bus gewöhnt. Das findet man nicht mal so spektakulär, sondern die Normalität. In Berlin fühlt man sich am Anfang schon deswegen wie ein Tourist, der unglaublich viel Zeit – wenn nicht alle Zeit der Welt zu haben scheint. Der Neuberliner versteht nicht, wieso man zur U-Bahn um sein Leben rennen muss, wenn doch 4 Minuten schon die nächste abfahren soll.
Aber ein gestresster Berliner könnte da doch schon einmal aus seiner sonst so ruhigen rauen Berliner Haut fahren. Aber keine Sorge, nach einigen Wochen fühlt man sich nicht mehr wie ein Tourist, man kommt im Berliner Alltag an. Besser gesagt, man beginnt zu rennen. Denn dann ertappt man sich selbst dabei, wie man gerade zur nächsten U- oder S-Bahn rennt, obwohl doch 4 Minuten später schon wieder die Nächste da wäre.
- Hinweis: Die U-Bahn – Nächstenliebe
Heutzutage wird uns gern vorgeworfen, zu distanziert zu sein. Wir seien zu egoistisch, denken ausschließlich an uns und persönliche Nähe sei uns fremd. Das Gesetz von Berührungsängsten mit Fremden scheint in der U-Bahn in Berlin allerdings außer Kraft gesetzt zu sein. Gerade bei langen Fahrten möchte man vermeiden, unbeholfen in den Gängen zu stehen. Denn dann ist man nur damit beschäftigt, aufzupassen, dass man ja nicht unelegant hinfällt. Wenn man nicht einmal eine Möglichkeit zum Festhalten findet, möchte man vermeiden, den Fremden gegenüber spontan als Stütze nutzen zu müssen.
Also setzt man sich dicht gedrängt nebeneinander auf die langen U-Bahn-Bänke. Wahrscheinlich haben die Leute auch tatsächlich in der U-Bahn Berlins weniger Probleme mit der Nähe. Sie sind sich nämlich näher als sie glauben, denn sie leben in derselben Stadt und das nicht in irgendeiner, sondern in Berlin. Wege sind lang und Stress liegt in der Luft. Gleichzeitig bestimmt eine gewisse Leichtigkeit die Berliner Atmosphäre mit der man schon irgendwie zu seinem Ziel kommen wird, sei es zum Büro, nach Hause, in die nächste Bar oder vielleicht sogar das Ziel eines Lebenstraum, den man in Berlin verwirklicht sieht. Das verbindet, auch in der U-Bahn. Also setz dich als Neuberliner ruhig auf einen, wenn noch so eng bemessenen Platz. Hier kann man sich eben auch dicht an dicht an Fremde drängen.
- Hinweis: Vorsicht Mindestgeschwindigkeit!
In Berlin sollte es eigentlich Schilder mit Mindestgeschwindigkeit auch für Fußgängerwege und -zonen geben, zumindest als Hinweisgeber für den Neuberliner. Sei es morgens von der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, durch die Shoppingstraßen, oder um schnell nach Hause zu kommen, in Berlin tickt der Kilometerzähler schneller. Es scheint in den Straßen von Berlin ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das da heißt: Beachte die Mindestgeschwindigkeit, sonst gerät die Masse, die durch die Straßen der Stadt zieht, schnell aus den Fugen.
Als frisch gebackener Berliner muss man also erst einmal einige Km/h zulegen, um mit dem Berliner mithalten zu können. Auf dem Weg zur U-Bahn empfiehlt es sich, sich geschickt durch Lücken hindurch zu winden, um nicht wegen des entspannenden Ganges des Touristen, wie ein Laster auf der Autobahn nach hinten geworfen zu werden. Man sollte immer schön die Überholspur nehmen. Auf der Rolltreppe zur U-Bahn heißt das übrigens immer Links, wenn man den Berliner nicht verärgern möchte. Im Zweifel sollte man einfach ganz auf die Rolltreppe verzichten, gerade wenn du als Neuberliner dann auch bald zur U-Bahn rennen solltest. In Berlin bewährt sich eben doch die gute alte Treppe.
- Hinweis: Digitale Tarnung in den Fußgängerzonen
Es stimmt, die Stadt ist groß, für den Neuberliner nahezu ungeheuerlich. Sobald man glaubt, schon fast am Ziel angekommen zu sein, weil man schon mal die gesuchte Straße gefunden hat, wird einem der eigene Fehler bewusst. Die Straßen sind oft tückisch weitläufig und man hat dann doch meist noch einige Meter vor sich. Sobald man also aus der U-Bahn steigt, zückt man erst einmal das Handy, um den digitalen Kompass einzuschalten. Besser gesagt ist man schon in den U-Bahnen orientierungslos. Ausgang heißt nämlich in Berlin nicht gleich Ausgang, man sollte nicht unterschätzen wie weit diese manchmal auseinander liegen können. Ohne google.maps fühlt man sich gern aufgeschmissen in Berlin.
Doch zur eurer Beruhigung liebe Neuberliner, wenn ihr genauer beobachtet, fällt euch eines sofort auf: Auch der Berliner kennt nicht jede Straße und jeden Winkel seiner Stadt, zumal er oft gern einfach in seinem Kiez bleibt. Sobald er aber einmal aus seiner Knautschzone herausgezwungen wird und sich in ein anderes Viertel begeben muss, fühlt auch er sich wie ein Fremder. Außerdem unterschätzt man, wie wenige, die einem begegnen wirkliche waschechte Berliner sind. Viele sind genauso Neuberliner, Pendler oder erst kürzlich Zugezogene.
Daher meine These, dass ein hoher Anteil der Leute, die einem fast in die Arme laufen, weil sie konzentriert auf ihr Handy schauen, gar keine SMS, Whats-App oder Facebook – Nachricht schreiben. Nein, sie suchen gerade bei maps verzweifelt nach der kürzesten und schnellen Route, um nicht wie ein Tourist oder Neuberliner verwirrt in der Gegend umher zu irren.
- Hinweis: Das Auto-Paradoxon
In Berlin gelten eigene Regeln, vor allen Dingen im Straßenverkehr. Nicht nur Fußgänger scheinen drei Schritte zuzulegen, sondern auch die Autofahrer sind schneller unterwegs und vor allen Dingen chaotischer. Als Neuberliner ist man schon bei dem Gedanken nervös, gleich ins Auto zu steigen mit Respekt vor den zig-mehrspurigen Straßen. Beunruhigen sollten einen trotzdem nicht die hupenden ungeduldigen Berliner hinter einem, wenn man möglicherweise nicht weiß, welche Spur man zu nehmen hat, wo man sich einordnen kann, oder wo sich eine Parklücke befindet. Denn als Neuberliner solltest du wissen, dass Fehler machen hier keine große Sache ist. Auch der Berliner kennt nicht jede Straße mit ihren besonderen Verkehrsregeln.
Das Paradoxon an Berlin ist vor allen Dingen, dass an sich kaum jemand im Alltag Auto fährt. Der Berliner ist lieber mit dem Nahverkehr oder Fahrrad unterwegs, weil er selbst von den vielen Ampeln, Staus und Chaos auf den Berliner Straßen genervt ist. Er kommt ohne schneller ans Ziel. Wo kommen dann also immer all die Autos her?
- Hinweis: Die Bürgerbüro-Warteschleife
Unterschätze nie, dass du nicht der einzige Neuberliner bist und in diese Stadt scheinbar täglich wieder etliche andere neue herziehen. Berliner müssen auch häufig umziehen zur nächsten Wohnung mit befristeter Miete. Manche probieren mit ihrem Partner zusammenzuziehen. In Berlin gibt es alles, wahrscheinlich auch viele Pärchen, die nach ein paar Monaten bemerken, dass sie nicht zusammen passen. Singles flüchten sich also wieder in WGs und Neuberliner müssen mit ihnen konkurrieren. In keiner Stadt sind die Bürgerbüros so überfordert wie in Berlin. 2 Monate warten ist eine gute Quote und geht bereits einher mit der Frage, wie dringlich es sei, die man mit: „So schnell wie möglich“ erwidert hat. Berlin soll deshalb sogar Probleme mit anstehenden Wahlen haben, da nicht alle Zugezogenen pünktlich vorher einen Termin zur Ummeldung ergattern. Dennoch, bei vielen Behörden ist wiederum das Vorzeigen des Untermietvertrages völlig ausreichend. Denn das Bürgerbüroproblem ist jedem Berliner nur zu gut bekannt. Wahrscheinlich hat er es privat selbst schon hautnah miterleben müssen.
- Hinweis: Wohnmarkt-Assessment-Center-Berlin
Die WG- oder Wohnungssuche ähnelt einem Assessment Center und die WG-Besichtigungen einem Bewerbungsgespräch für den heißersehnten Job.
Einen Tipp an Neuberliner: Zweifel nicht an dir, wenn du selten Antworten auf deine gefühlt Millionen verschickte, so gut durchdachte Anfragen erhältst. Die Devise aus anderen Städten: „Erst mal alle Bewerber einladen und dann entscheiden“, ist in Berlin unmöglich. Der Berliner mit dem Wohngesuch bekommt innerhalb weniger Minuten so viele Anfragen, dass er die Anzeige sofort wieder herausnehmen muss. Dennoch kämpft er sich durch einen Stapel Anzeigen und kann nur diejenigen einladen, die auf den ersten Blick sympathisch waren.
Für den Neuberliner ist daher ein Besichtigungstermin wie ein Gefühl im Recall zu sein. Wichtig ist nur nicht die Geduld zu verlieren, täglich die Wohnungsseiten und Anzeigen bei WG-Gesucht zu durchforsten. Alle Gesuche, die älter als ein Tag oder streng genommen schon mehrere Stunden online stehen, kannst du quasi verwerfen. Ehrgeiz und Willen können helfen. So sollen bei eigenen Wohnungen sogar Motivationsschreiben bei den Vermietern gut ankommen: Willkommen im Assessment Center Berlin.
Und wer die Zeit bis zur Traumwohnung überbrücken möchte, aber keine Freunde oder Verwandte in der Stadt hat, schnappt sich einfach eine Wohnung auf Wunderflats. Die Jungs bieten möblierte Wohnungen in Berlin (Hamburg oder München), die ihr für einen gewissen Zeitraum mieten könnt. Mindestaufenthalt ist ein Monat, dafür ist es aber günstiger als eine dauerhafte Hotelübernachtung und ihr habt die Annehmlichkeiten einer eigenen Wohnung. Übrigens ist das Angebot auch ziemlich cool, wenn ihr geschäftlich eine zeitlang in Berlin seid – zur Einarbeitung, für ein Projekt… oder einfach um die Weltherrschaft an euch zu reißen ;)
- Hinweis: Berliner Trend: Frühsport Treppen steigen
Solltest du dann deine Traumwohnung gefunden haben, so kannst du damit rechnen, dass sie weder Fahrstuhl hat, noch sich in den ersten Stocks befindet. Im Gegenteil, häufig wohnst du im Hinterhaus ganz oben im vierten oder fünften Stock. Berlin hat daher einen eigenen Sporttrend für sich entwickelt, nicht nur als Alternative zu den Rolltreppen, sondern überall: Das Treppensteigen. Es hält fit und ist für manche sogar der perfekte Ausgleich zum ständigen Sitzen in der Schule, Unis oder im Büro starr vor dem Computer. So retro Treppen zu sein scheinen, oftmals ist man mit ihnen auch noch schneller als mit den modernen Fahrstühlen und Rolltreppen.
Aber ein kleiner Tipp: Lege dir schnell eine Packstationenkarte zu, denn der Paketdienst ist selten so der motivierte Treppen-Spitzensportler. Der wird wahrscheinlich schon privat oft genug das Vergnügen haben.
- Hinweis: In Berlin geht man nicht weg.
Berlin – die Stadt der vielfältigen Möglichkeiten – die Stadt, die nie schläft. Deshalb ist auch für jeden Nachtschwärmer etwas dabei. Gerade in Friedrichshain und Prenzlauer Berg findet man die ein oder andere Bar oder den kleinen Szeneclub an einigen Ecken. Doch Vorsicht, egal in welchem Viertel du unterwegs bist, die kleinen Feinheiten der Berliner Sprache sollten nicht missachtet werden.
Der Berliner geht weder weg, noch geht er aus oder hat Lust auf Party machen – sondern der Berliner ‚geht feiern‘.
Er hat Lust zu tanzen, egal zu welcher Tageszeit. Die Stadt hält für jede Gelegenheit das passende Angebot bereit. So kann man morgens vor der Arbeit in Guten Morgen Clubs sich warm tanzen, wenn der Frühsport im privaten Treppenhaus noch nicht ausgereichend gewesen zu sein scheint oder man kann sich nach der Arbeit auf einer After Work Party den Frust von der Seele tanzen. Nachts findet man sowieso für jeden Musikgeschmack und Geldbeutel den eigenen Lieblingsclub, auch im eigenen Viertel, selbst wenn man nicht gerade in Friedrichshain wohnt. Aber der Berliner geht wie gesagt tanzen. Er würde nie zugeben, dass er insgeheim auch nach der großen Liebe oder nach einem netten One-Night-Stand für die kommende Nacht sucht.
- Hinweis: Eine eigene Spezies – Der Bettler Berlins
Aber auch in Berlin ist nicht alles Gold, was glänzt. Wie gesagt Berlin ist ein Querschnitt der Gesellschaft, sodass man wahrscheinlich alle Facetten von reich und arm in dieser Stadt vorfinden wird. Auch in andern Städten gibt es natürlich Armut und Bettler in den Fußgängerzonen und vor den Supermärkten und Kaufhäusern. Dennoch muss sich der Neuberliner erst einmal daran gewöhnen, dass die Konzentration an Bettlern hier viel höher und das Elend oft gegenwärtig ist. Man sieht sie fast überall stehen, sitzen oder liegen und betteln. Manche sind kreativer und singen oder sind musikalisch in den U-Bahn Tunneln oder direkt in der U-Bahn unterwegs. Man muss immer auf eine Musikeinlage oder Anfragen zum Kauf der Obdachlosenzeitung „Motz“ gewappnet sein, egal wie motiviert man selbst gerade ist.
Aber was dem Neuberliner auffällt ist, dass der Bettler in Berlin über aus freundlich ist. Kaum einer wird wütend oder ausfällig, wenn ihm kein Geld gegeben wird. Sondern man erhält stets ein nettes „Danke, ich wünsche Ihnen noch einen schön Tag“. So gibt man auch dem ein oder anderen gern mal etwas Unterstützung, denn der Berliner Bettler gibt sich auch mit Pfandflaschen, Essen und Trinken zufrieden. Es muss nicht immer das liebe Geld sein. Der Berliner Bettler ist eben wie jeder andere Berliner auch einfach anders.
Die Stadt birgt für jeden etwas und alle geben der Stadt ihren Charakter.
Die Bewohner geben ihr die Farben, die sie zu der bunten Einzigartigkeit machen, die sie ist, eben so anziehend, aber auch polarisierend. Denn in dieser Stadt voller Widersprüche ist das Leben nicht geschrieben, nicht das Leben der Stadt, auch nicht das Leben der Bewohner. Vielleicht wimmelt die Stadt deshalb nur so von Neuberlinern. Sie alle hoffen hier zu finden, was sie suchen sei es, den Straßenverkehr missachtend mit Google maps, bei einer WG im Wohnungssuch Assessment Center oder wartend in der U-Bahn dicht an dicht mit einem Fremden rechts und links. Berlin ist also für alle Lebenskünstler, Sinnsuchende, Gedankenlose, Individuellen, Trendsetter und Karrieremenschen ein willkommener Ort zum Ausprobieren und einfach machen.