Taz.labs 2015 – Gedöns-Kongress

Unter dem Motto „Was wirklich zählt“ fand am 25. April 2015 im Rahmen des taz.labs 2015 der „Gedöns-Kongress“ der taz statt. Eine wahrlich bunte Mischung aus politisch Interessierten, verhalten bis offen linksorientierten BerlinerInnen kam schon am frühen Samstagmorgen im Haus der Kulturen der Welt zusammen, um sich an 10 größeren oder kleineren Treffpunkten über aktuelle politische Entwicklungen aneinander aufzureiben, sich Gedanken darüber zu machen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen und auch so manche als salonfähig geltende Etikette aufs Korn oder zumindest unter eine kritisch linke Lupe zu nehmen.

So nahmen wir beispielsweise an einer Diskussion zum Thema „Fragile Männlichkeit: Cowboys, Macker, Hengste – eine politische Stilkritik“ teil, die sich an einem Foto des Journalisten Nils Pickert aufhing, das ihn gemeinsam mit seinem Sohn Röcke tragend durch die Stadt flanierend zeigt. Das Bild erlangte weltweit zweifelhafte Berühmtheit, da es offensichtlich international nichts Wichtigeres zu diskutieren gab als die Frage, ob es schicklich oder gar „(un)männlich“ sei, sich als Mann im Rock zu zeigen und dies seinem Sohn auch noch vorzuleben. Pickert, der seinem Sohn, der für seine kindliche Vorliebe für Röcke in der Kita verlacht wurde, ein Vorbild sein wollte, indem er ihm vorlebt, dass sich Identität nicht an so etwas Banalem wie einem Kleidungsstück aufhängt und es auch als Junge „voll ok“ ist, Röcke zu tragen, kann über den Hype dieses Bildes auch heute nur den Kopf schütteln. Jedoch war es Anlass genug, um gemeinsam mit Ilka Quindeau, Michael Staack, Seyran Ateş und Ulrich Gutmair darüber zu diskutieren, was heute eigentlich „Männlichkeit“ bedeutet, ob wir ein „männliches Stereotyp“ überhaupt noch brauchen und darüber, dass die von einem Mann gewechselte Windel nach wie vor mehr wert ist als die einer Frau.

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Taz.labs – Mehr als nur Gedöns

Aus diesem Thema entlassen fanden wir uns anschließend in einer Runde zum Thema „Wahlverwandtschaften“ wieder, in welcher die Frage gestellt wurde, welche Familie nach der Familie kommt. Gerade viele von uns Wahlberlinern teilen wohl das Schicksal, in einer der tollsten Städte der Welt zu leben, die eigene Familie aber in hunderten von Kilometern Entfernung, die nicht als Reichweite beschrieben werden kann, zu wissen. Angeführt durch die unglaublich charismatische deutsche Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim (den soziologisch vielleicht weniger Interessierten auch als die Frau des kürzlich verstorbenen Ulrich Beck bekannt), die uns mit ihrem scharfen Geist, ihrem Esprit und Witz wirklich in ihren Bann schlug, entspann sich eine Diskussion über Familienmodelle der Zukunft, die zum Teil heute schon Realität sind oder sein sollten, gleichwohl aber vielerorts immer noch als „nicht normal“ gelten. Ob es nun um Familien mit zwei Mamas oder Papas, vier Elternteilen oder echten „Wahlverwandtschaften“ geht, wie sie sich Christine Wichert, die selbst als Erwachsene zwei neue „Mamas“ fand und dies zum Konzept ihres Vereins „Wahlverwandtschaften e.V.“ machte, ist die als klassisch bezeichnete heteronormative (womöglich noch verheiratete) Mutter-Vater-Kind-Familie als eigentlich nur eine von vielen denkbaren Varianten nach wie vor das normative Ideal.

 

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Unser Highlight am Abend war aber, ja, ihr verlest euch jetzt nicht, die Session „Vulva 3.0 – Zwischen Tabu und Tuning“, in welcher zunächst der gleichnamige Film von Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz gezeigt wurde, welcher auch auf der letztjährigen Berlinale lief. Für einen Anfangdreißiger wie mich war es, auch wenn ich um den neu entbrennenden Kult um Geschlechtsteiltuning schon gehört hatte, zunächst einmal höchst verstörend zu sehen, dass und welche Schönheitsideale des weiblichen Genitals offensichtlich unter jungen Frauen grassieren. So wird in dem Film unter Anderem eine Ärztin gezeigt, die so genannte „Labioplastiken“ durchführt und sich mitleidig über die Frauen äußert, die aufgrund ihrer zu großen Schamlippen nicht mehr in die Sauna gehen können (seriously?!). Auch der freiberufliche Bildbearbeiter, der erotische bis pornographische Bilder nonchalant so retouchierte, dass die gezeigten Geschlechtsteilelemente bis zur Verfremdung „schön und ideal“ anmuteten, verschlug mir die Sprache. Die anschließende Diskussion mit Ulrike Zimmermann, eine der Macherinnen des Films, Heide Oestreich (taz-Redakteurin für Geschlechts- und Gesellschaftspolitik) und Stevie Schmiedel (Vorstandsvorsitzende des Vereins „Pinkstinks“, der sich u.a. gegen limitierende Rollenbilder in den Medien einsetzt) hätte vermutlich noch stundenlang weitergeführt werden können, hätte nicht schon wieder die nächste Diskussionsrunde in den Saal gedrängt.

Mit Sicherheit konnten wir am kalten Buffet dieses Kongresses längst nicht alles probieren, was wir uns zuvor auf den Teller geladen hatten. Es war ein langer, aber sehr inspirierender Tag voller „Food for thought“, das wir im nächsten Jahr sicher wieder genießen werden.

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Aktualisiert am von Berlin Ick Liebe Dir